„Wer soll sich das denn ansehen?“ – Der Robert Geisendörfer Preis 2017

„Wer soll sich das denn ansehen?“ – Der Robert Geisendörfer Preis 2017

Unabhängigkeit – auch als Freiheit von der Quote
Überlegungen zur Verleihung des Robert Geisendörfer Preises, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland, am 10. Oktober 2017

Robert Geisendörfer, 1967 in seinem Büro in der Münchner Birkerstraße, Evangelischer Presseverband für Bayern e.V. derivative work: Rabanus Flavus (talk), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12531793

Medien können nur dann als Korrektiv funktionieren, wenn sie unbequem, unstreitbar, unkorrumpierbar seien. In ihrer Dankesrede unterstreicht Dr. Gabriela Sperl die entscheidende Rolle medialer Unabhängigkeit für ein demokratisches Miteinander. Als Produzentin der Spielfilm-Trilogie „Mitten in Deutschland: NSU“ erhält sie im Rahmen der Robert-Geisendörfer-Preisverleihung den Sonderpreis der Jury. Um das anspruchsvolle Projekt zu realisieren, habe sie „gekämpft wie eine Löwin“ und zwar „gegen alle Widerstände“, erklärt Christian Schwochow, Regisseur von Teil I: „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“.

Sperls Herausforderung: Die Produktionsprozesse von drei unabhängigen Filmteams ebenso miteinander zu vereinbaren wie die erfolgreiche Zusammenarbeit mit vier beteiligten Landesrundfunkanstalten (SWR, BR, MDR, WDR) sowie der ARD Degeto zu koordinieren. „Wer soll sich das denn ansehen? Wann sollen wir so etwas bloß senden?“, seien Fragen, denen sich Filmschaffende seitens der Sender und Redaktionen immer wieder ausgesetzt sehen würden, wenn es um Quoten und potentiellen Erfolg gehe. Gabriela Sperl konstatiert: „Es gibt keine Rezeptoren für Erfolg.“ Ihr liege vor allem am Herzen, den Themen nachzugehen, die nicht gesehen, verschwiegen oder vertuscht worden seien, sich ihr aber gerade deswegen wiederholt aufdrängen würden.

Geisendörfer:  Verantwortung von Medienschaffenden

Wenn Gabriela Sperl die hohe Motivation zur investigativen Recherche ebenso wie die Freiheit medialer Produktionen als Voraussetzungen dafür betont, dass Medienschaffende ihrer demokratischen Aufgabe gerecht werden können, ist sie nah bei Robert Geisendörfers Idealen. Der Gründer und Direktor des Gemeinschaftswerks Evangelische Publizistik (GEP) sowie jahrelange Fernsehbeauftragte der EKD – um nur zwei seiner Positionen im Kontext der Christlichen Publizistik zu nennen – betont seiner Zeit ebenso die herausragende Stellung medialer Unabhängigkeit wie auch die Verantwortlichkeiten von Medienschaffenden: „Fürsprache üben, Barmherzigkeit vermitteln und Stimme leihen für die Sprachlosen“. Im Gedenken an ihn zeichnet die Jury – neben dem Sonderpreis – in der Kategorie „Allgemeine Programme“ jährlich bis zu vier Hörfunk- und Fernsehsendungen aus, sowie zwei Fernsehproduktionen in der Sparte „Kinderprogramme“. Auswahlkriterium ist exzellente journalistische, konzeptionelle wie auch gestalterische Qualität, bei Kinderfilmen selbstverständlich auch das pädagogische Niveau. Die Jury wählt Preisträger_innen danach aus, inwieweit sie soziale Verantwortung und gegenseitige Anerkennung im Sinne eines guten, mitmenschlichen Zusammenlebens zu fördern.

Dieser Anforderung gerecht zu werden, kann gleichzeitig die Pflicht bedeuten, Missstände wie Ungerechtigkeit oder Ausbeutung aufzuzeigen. Die Dokumentation „La buena vida“ (3sat/ ZDF), eine der vier preisgekrönten Werken in der Kategorie „Allgemeine Programme“, führt ihrem Publikum vor Augen, wie Großkonzerne den Kohleabbau in Kolumbiens Wäldern voranpeitschen und damit das Leben ansässiger Gemeinschaften wie der Wayúu schrittweise zerstören. Im Zuge der Verhandlungen über ihre Umsiedlung fühlen sich die Wayúu zutiefst betrogen, glauben nicht an das „viel komfortablere“ Leben, das ihnen versprochen wird. Die Bewohner_innen sind eng mit ihrem Dorf Tamaquito verwurzelt, wollen hier weiterhin in und mit der Natur leben: „Wir müssen arbeiten und säen! Wovon sollen wir sonst leben?“ „La buena vida“ führt seinem Publikum vor Augen, dass es selbst Verantwortung trägt: Während Kolumbien zu den größten Kohlelieferanten weltweit zählt, produzieren acht deutsche Kraftwerke Strom aus kolumbianischer Kohle.

Mit seiner Fähigkeit, sich Zeit zu nehmen für die intensive Auseinandersetzung in unmittelbarer Nähe zu seinem Betrachtungsgegenstand, für die „Geschichten hinter den Geschichten“ (Jana Matthes), für die Übersetzungsleistung komplexer Sachverhalte in eine für den_die Zuschauer_in zugängliche Darstellung ist der Dokumentarfilm als Genre von hoher Relevanz für den informierten Diskurs einer demokratischen Gesellschaft. Umso alarmierender ist sein aktueller Status im öffentlich-rechtlichen Programm: Sendeplätze zu späten Abend- und Nachtzeiten auch für preisgekrönte Produktionen und Dumping-Honorare für Filmteams, die zu selbstausbeuterischen Bedingungen arbeiten, sind leider keine Ausnahme. Diese untragbare Situation betonen auch die beiden Preisträger von „La buena vida“, Jens Schanze (Buch und Regie) und Börris Weiffenbach (Kamera), im Nachgang ihrer Dankensrede.

„Wer soll sich das denn ansehen? Wann sollen wir so etwas bloß senden?“, sind Fragen seitens der Sender mit denen sich Dokumentarfilme noch wesentlich stärker konfrontiert sehen als Spielfilme – ihre Rentabilität scheint gänzlich angezweifelt. Sie bekommen prinzipiell kaum Sendeplätze und wenn prämierte Produktionen dann doch mit Glück um 22:15 Uhr erstausgestrahlt werden, soll das den Sender am besten nichts kosten. „Neues hat so wenig Chancen. Fernsehschaffende haben Angst und Angst erstickt Kreativität. Man darf nicht an das Ergebnis denken, um ein Ergebnis zu erhalten. Wenn man danach sucht, blockiert man den kreativen Prozess. Es ist wichtig zu lernen, die Schranken, die uns umgeben, zu durchbrechen [.]. So [.] erweitern [wir] Horizonte [.]. Dies zu bewerkstelligen, halte ich für einen Kernauftrag öffentlich-rechtlichen Fernsehens“, unterstreicht Sabine Rollberg, Professorin an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM), in ihrem Plädoyer für den Dokumentarfilm bereits vor zwei Jahren. Im reichsten Mediensystem der Welt ist die prekäre Situation des Dokumentarfilms zutiefst irritierend. Auch wenn der Robert Geisendörfer Preis Filmschaffenden Forum und Anerkennung schenkt, können Veranstaltungen wie diese allein einem solchen Defizit nicht genug entgegenhalten. Es liegt in der publizistischen Verantwortung der Sendeanstalten, dieser Problematik zu begegnen, Filmschaffenden faire Angebote zu unterbreiten und deren unersetzbare Leistung innerhalb einer informierten Gesellschaft zu wertschätzen, um eine qualitativ hochwertige öffentlich-rechtliche Medienlandschaft zu erhalten. Nur dann können Produktionsteams weiterhin frei und unabhängig arbeiten, um Werke zu schaffen, die in Geisdörfer’schem Sinn ihren Verantwortlichkeiten gerecht werden: „Fürsprache üben, Barmherzigkeit vermitteln und Stimme leihen für die Sprachlosen.“

Susanna Wolf, M. A. ist Medienethikerin und setzt sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Christliche Publizistik der FAU Erlangen-Nürnberg mit Privatheit, Datenschutz und deliberativen Prozessen im Kontext der digitalen Demokratie auseinander.

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